Über die Geschichte und Gegenwart der burgenländischen Ungarn sprach der Historiker Dr. Gerhard Baumgartner am Abend des 25. April im Gemeindesaal von Siget in der Wart (Őrisziget). In seinem beinahe eineinhalbstündigen Vortrag bemühte er sich, die über tausendjährige Geschichte der burgenländischen Ungarn vor vollem Haus darzustellen. Die Veranstaltung, die vom Burgenländischen Ungarischen Kulturverein (BUKV) und dem Concentrum gemeinsam organisiert wurde, endete mit einem Gespräch zum Thema.
Mit einem folkloristischen Auftakt begann das Programm: Die beiden burgenländisch-ungarischen Volksmusikgruppen des Kulturvereins, Csörge und Szélforgók, spielten gemeinsam und führten Melodien aus Csajta auf, welche aus einer Sammlung des Volkskundlers Prof. Dr. Károly Gaál aus den 1960er-Jahren stammen. Carmen Prascsaics, Büroleiterin des Burgenländisch-Ungarischen Kulturvereins, und Mag. Dr. Gerhard Harkam, evangelischer Pfarrer von Stadtschlaining (Szalónak) und Leiter des Concentrum in Stadtschlaining – einem Forum für politischen, ethnischen, kulturellen und gesellschaftlichen Ökumenismus – begrüßten die Interessierten, unter denen sich nicht nur Einheimische, sondern auch zahlreiche Besucher aus anderen Orten der Region befanden.

Gerhard Baumgartner wurde 1957 in Oberwart geboren, mütterlicherseits stammt er aus einer kleinadeligen Familie aus Siget in der Wart. Er studierte Englisch, Geschichte und Finnougristik an der Universität Wien. Er unterrichtete in Wien, Klagenfurt, Graz, Krems, Budapest und Tel Aviv, war Organisator und regelmäßiger Vortragender bei Workshops und Konferenzen. Zwischen 1984 und 2011 war er Redakteur und verantwortlicher Redakteur der ungarischsprachigen Radio- und Fernsehsendungen des ORF Burgenland. Er ist Autor zahlreicher Publikationen und Bücher. Im Mittelpunkt seiner Forschungen stehen der Widerstand zwischen 1938 und 1945, die Verfolgung der Roma und Sinti, die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit der Republik Österreich sowie die Geschichte der Volksgruppenminderheiten im Burgenland. Von 2014 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2022 war er wissenschaftlicher Leiter des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstandes (DÖW).
Dr. Gerhard Baumgartner, der ehemalige wissenschaftliche Direktor des Dokumentationsarchivs des österreichischen Widerstands (DÖW), ist ein ungarischstämmiger Historiker aus dem Burgenland und erforscht die Geschichte der burgenländischen Minderheitengruppen. Seinen Vortrag mit dem Titel „Die Geschichte und Gegenwart der burgenländischen Ungarn“, der auch für Laien leicht verständlich und informativ ist, illustrierte er mit zahlreichen Zeitdokumenten und historischen Fotos.
Der Professor behandelte die ungarisch bezogene Geschichte des Burgenlandes in einem weiten zeitlichen Bogen – von der Landnahme im 9. Jahrhundert über die mittelalterlichen Ereignisse bis zur Öffnung des Eisernen Vorhangs. Es war unter anderem die Rede davon, wie die ungarische Bevölkerung vor Ort erlebte, dass sie nach 1920 zu einer Minderheitengemeinschaft wurde, wie dies die nationale Identität und den Sprachgebrauch beeinflusste. Zur Sprache kamen auch die Rongyos Gárda (zerschlissene Garde), sowie die adligen Traditionen und das Selbstbewusstsein in der Őrség, das Referendum von Sopron 1921, das Volksgruppenschulgesetz von 1936, sowie die verschiedenen ungarischen Dialekte im Burgenland.
„Grundsätzlich pflegten die burgenländischen Kleinadeligen die ungarische Tradition und Kultur, bewahrten deren Werte, stärkten das Selbstbewusstsein und sprachen Ungarisch. Sie stellten eine bedeutende gesellschaftliche Schicht dar. Es sind mehrere mittelalterliche Urkunden aufgetaucht, welche die Existenz dieser Gemeinschaften belegen. Allerdings waren in der Oberen Wart – in Oberwart (Felsőőr), Unterwart (Alsóőr) und Siget in der Wart (Őrisziget) – nicht nur Kleinadelige typisch, sondern es existierte auch eine Oberschicht des Hochadels: unter anderem die Batthyánys, Erdődys und Esterházys. Obwohl auch diese Schicht überwiegend aus Ungarn bestand, hielten sie sich nicht unbedingt für Ungarn, oft sprachen sie vielmehr Französisch. Im 19. Jahrhundert gab es auch eine bürgerliche Schicht. Wenn wir das Referendum von 1920 untersuchen, sehen wir, dass in den verschiedenen burgenländischen Städten diejenigen, die sich als Ungarn bekannten, meist jüdischer Herkunft waren. Es lebten auch alteingesessene ungarische Bauernfamilien in dieser Gegend. Auch die Roma dürfen unter den Minderheiten nicht unerwähnt bleiben, denn auch die Angehörigen dieser Volksgruppe kommunizierten auf Ungarisch. Natürlich benutzten viele die ungarische Sprache, doch das bedeutete nicht zwangsläufig, dass sie sich selbst auch als Ungarn betrachteten. Vor allem gebildete Menschen bekannten sich als „Hungarus“, ihre politische Identität war ungarisch. Dieser Zustand änderte sich 1921, denn die Österreichisch-Ungarische Monarchie zerfiel. Aus dieser kleinadeligen Gesellschaft wurde nach tausendjähriger Geschichte plötzlich eine Minderheit. Bis in die 1960er-Jahre stellte das kein wirkliches Problem dar, denn in den Dörfern, wo große gesellschaftliche Veränderungen stets mit Verzögerung eintrafen, blieben die Bauern, was sie waren – sie mussten damals noch nicht zu pendelnden Arbeitern werden.“ – erläuterte Gerhard Baumgartner, der auch erklärte, dass der ungarische Dialekt vor Ort das primäre Kommunikationsmittel einer jeweiligen Gemeinde war. Zum Beispiel in der Apotheke, auf dem Postamt gab es fast gar keine Interaktion auf Deutsch. „Es war nicht notwendig, Deutsch zu können. Meine Großmutter, die gegen Ende der siebziger Jahre starb, kannte die Sprache nicht, sie konnte sich kaum mit meinem Vater unterhalten, der aus einem benachbarten deutschsprachigen Dorf stammte.“

„Die Historiker des 19. Jahrhunderts konzentrierten sich eher auf die Grenzwächterlinie, als sie das Grenzschutzsystem der landnehmenden Magyaren und das Prinzip des Gyepű (Grenzsaums) entwickelten. Im 10. Jahrhundert konnten auch Christen in das Gebiet des Őrvidék (Wachgebiet) einwandern, doch ist es keineswegs sicher, dass sie Grenzwächter waren – vielmehr handelte es sich wohl um Eisenwächter. Neuere Forschungen gehen davon aus, dass im Mittelalter vor allem das Eisen eine zentrale Rolle in dieser Region spielte. In Siebenbürgen und hier, in dieser Region, beziehungsweise im Komitat Vas, gab es davon reichlich. Der Boden enthielt vielerorts Eisen, und es gelang, eine ausreichende Menge für die Herstellung zu gewinnen. Im Namen Őrisziget kann das Wort Sziget (Insel) auf das Eisen hinweisen, denn im Altungarischen war die Bezeichnung für Eisen ‚szeg‘. Die tatsächliche Grenze – der sogenannte Gyepű – verlief vielmehr im Gebiet des heutigen Niederösterreichs. Die deutsche Sprache bewahrt dies noch: zum Beispiel weist der um das 10. Jahrhundert gegründete Ort Ungerdorf – also Magyarfalva (Ungarndorf) – im Namen auf die Herkunft seiner Bewohner hin. Die Grenze verlief am Fluss Enns; jenseits des sogenannten ‚Oberen Enzians‘ begann bereits das Fränkische Reich – etwa zweihundert Kilometer von hier entfernt. Eigentlich bewachte man hier das Eisen – nicht die Steirer.“ – stellte der Historiker eine neue Vorstellung über die Aufgabe des Őrvidék vor.
An der historischen Zeitreise mit projizierten Bildern nahmen unter anderem folgende Persönlichkeiten teil: Ludwig Frauer, Präsident des BUKV; József Plank, Ehrenpräsident des Kulturvereins; Iris Zsótér, Vizepräsidentin des BUKV und Direktorin des Zweisprachigen Bundesgymnasiums Oberwart; Martin Zsivkovits, ehemaliger Direktor des Gymnasiums; Mariann Seper, Ungarischlehrerin und Leiterin der Kindervolkstanzgruppe „Virgonc“; Otto Mesmer, pensionierter evangelischer Pfarrer aus Siget in der Wart; sowie Manfred Koch, pensionierter evangelischer Superintendent. Es kamen auch einige Mitglieder der Theatergruppe des Lesevereins der Reformierten Jugend Oberwart.
Carmen Prascsaics, die den Abend moderierte, beendete das voll besuchte Programm mit dem Gedanken, dass wir stets Neues über uns selbst erfahren.
Text: Mónika Gombás
Übersetzung: Pathy