Tamás Szőcs wurde am 15. Juni offiziell als Hauptkantor der rund 5.000 Mitglieder zählenden evangelischen Gemeinde in Graz sowie der Superintendentur der Steiermark eingeführt. In seiner Heimatstadt Kronstadt (Brassó) begann er infolge eines Erdbebens mit dem Orgelspiel. Später lebte er in Deutschland, wo er eine historische Orgel vor dem Verfall rettete. Nach 27 Jahren verspürte er nun das Bedürfnis nach Veränderung. In Graz fühlt er sich bisher wohl – nur mit dem steirischen Dialekt der Markthändler vor der Heilandskirche tut er sich noch manchmal schwer.
„Da habe ich in den letzten drei Monaten mit mehr Leuten zum Du gefunden als in Deutschland in 27 Jahren.“ – beschreibt Tamás Szőcs, gebürtig aus Siebenbürgen, seine ersten Eindrücke aus Graz. Er empfindet, dass man in Österreich – wohl auch aufgrund der Erinnerung an die Monarchie – weit weniger erklären muss, was es bedeutet, aus Rumänien zu stammen und dennoch Ungarisch als Muttersprache zu sprechen. Tamás wuchs in Kronstadt (Brassó) auf und verdankt seine Berufswahl einem Naturereignis: „Kurz nach dem Systemwechsel, im Mai 1990, wurde die Stadt von einem starken Erdbeben erschüttert. Ich war damals Gymnasiast, und da ein Großteil des Schulgebäudes beschädigt war, wurden etwa 30 von uns in einen Lagerraum verlegt – zufällig stand dort ein Klavier. Meine Mitschüler baten mich, etwas darauf zu spielen, und bald sprach sich herum, dass ich die Gruppe so unterhielt. Eines Tages kam ein strenger Chemielehrer herein und fragte: ‚Tamás, warum spielst du eigentlich nicht Orgel?‘ Er schickte mich zum katholischen Kantor, der mir die Orgel zeigte. Ab da gab es kein Zurück mehr“, erzählt er.

Tamás Szőcs absolvierte sein Musikstudium an der Universität Kronstadt und besuchte parallel dazu das Kantorenausbildungsinstitut der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn in Fót: „Da der Unterricht immer samstags stattfand, pendelte ich jede Woche – 700 Kilometer hin und genauso viele zurück. Damals wollte ich noch nicht von zu Hause wegziehen, mich nicht von Familie und Freunden trennen.”
Als Tamás Szőcs 1998 ein Stipendium für Deutschland erhielt, entschied er sich schließlich doch für den Umzug. „Deutsch habe ich schon früh gelernt. In Siebenbürgen habe ich oft in sächsischen Kirchengemeinden auf der Orgel gespielt, meine damalige Partnerin war selbst Siebenbürger Sächsin – Deutsch wurde schnell unsere gemeinsame Sprache. Außerdem ist ein großer Teil der musikalischen Fachliteratur auf Deutsch, Sprachkenntnisse sind da schlicht unerlässlich“, erinnert er sich. Aus dem Stipendium wurden schließlich 27 Jahre in Deutschland. Er absolvierte ein weiteres Studium an der Hochschule für Kirchenmusik in Herford und promovierte an der Universität Mainz in Musikwissenschaft mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft: „Insgesamt wurden 30 Stipendien vergeben – an MusikerInnen, TheologInnen, SprachwissenschaftlerInnen – alle näherten sich der Kirchenmusik aus ihrer eigenen fachlichen Perspektive. Ich erforschte über Jahre hinweg ein auf wundersame Weise erhalten gebliebenes musikalisches Manuskript aus dem 17. Jahrhundert. Das für Chor geschriebene Werk wird im Archiv der Schwarzen Kirche in Kronstadt aufbewahrt – es hat die Türkenkriege, den Stadtbrand von 1689, das Ceaușescu-Regime und die Revolution überlebt.”



Nach dem Abschluss seines Studiums erhielt Tamás Szőcs eine Kantorenstelle im westfälischen Gronau, nahe Münster. Neben seiner beruflichen Tätigkeit begann er dort sein bislang größtes Projekt: Als er erfuhr, dass in einem aufgegebenen Dortmunder Kirchengebäude eine historische Orgel dem Verfall preisgegeben war, fasste er den Entschluss, das Instrument zu retten: „Ich spürte, dass ich diese 1904 erbaute Orgel nicht ihrem Schicksal überlassen darf – sie hatte den Zweiten Weltkrieg überstanden und sogar einen Kirchenbrand in den 1990er-Jahren. Ich schrieb unzählige Briefe an die Stadt, die Kirche und die Denkmalpflege. Schließlich sammelten wir durch Spenden rund 900.000 Euro. So viel kostete der Ausbau der Orgel am ursprünglichen Ort, ihre Restaurierung am anderen Ende Deutschlands, der Transport sowie der Umbau der Empore in unserer Kirche in Gronau. Heute würde niemand mehr vermuten, dass sie nicht von Anfang an dort war.”
Nach 20 Jahren verspürte Tamás erneut den Wunsch nach Veränderung. Zwar hatte er kein konkretes Ziel vor Augen, doch die Stellenausschreibung aus Graz sprach ihn sofort an:
„Es war eine sehr einladende Ausschreibung – als wäre sie für mich geschrieben, ohne mich zu kennen. Gesucht wurde jemand mit Begeisterung, mit Herzblut für Kirchenmusik, der gerne mit Menschen arbeitet. Dennoch hätte ich nicht erwartet, dass man sich bei 8–9 Bewerbern ausgerechnet für mich entscheidet.
Das Auswahlverfahren fand im September statt: Nach einem Kommissionsgespräch musste ich mit den Bläsern und dem großen Chor proben, einen Gottesdienst vorbereiten, an der Orgel spielen, mit der Gemeinde singen und ein kleines Konzert geben. Es war erschöpfend – aber ich denke, es hat sich gelohnt.”
Tamás Szőcs’ Aufgabenbereich in der Steiermark ist äußerst vielseitig. Kürzlich lernte er die evangelische Gemeinde im grenznahen Bad Radkersburg kennen, in der darauffolgenden Woche war er in Schladming und Admont zu Besuch. In Graz leitet er fünf musikalische Gruppen: zwei Seniorenchöre, einen Kinderchor, ein Blasorchester sowie den großen Gemeindechor. Mit all diesen Gruppen muss nicht nur regelmäßig geprobt und aufgetreten werden – auch die Programme wollen langfristig geplant sein. Momentan stellt Tamás bereits das Repertoire für den Advent zusammen. Er ist überzeugt: Auch ein Kantor predigt – durch die Musik. Deshalb stimmt er sich vor jedem Gottesdienst mit dem Pfarrer ab und wählt die Lieder passend zum Thema der Predigt aus. „In der Grazer Heilandskirche ist es zudem üblich, dass nach der 15-minütigen Predigt nicht die Gemeinde singt, sondern der Organist improvisiert. Wenn die Predigt bildreich ist und viele metaphorische Elemente enthält, ist es glücklicherweise leicht, musikalische Assoziationen zu finden, bekannte Werke zu zitieren oder durch eigene Klangbilder einzelne Worte und Stimmungen hervorzuheben. Die Verbindung von Theologie und Musik ist ein wunderschönes Erlebnis – und es tut gut zu sehen, wenn die Gemeindemitglieder mit einem angenehmen Gefühl nach Hause gehen“, sagt Tamás.
Und was macht Tamás Szőcs, wenn er sich gerade nicht mit Kirchenmusik beschäftigt? Auch wenn sich Beruf und Hobby in der Musik oft kaum trennen lassen, hat er durchaus andere Freizeitbeschäftigungen. Früher war er regelmäßig sportlich aktiv, heute geht er gerne wandern oder liest – vor allem ungarische und deutsche Lyrik. Am spannendsten findet er jedoch die Ahnenforschung: Mit Hilfe von Archiv- und Kirchenunterlagen sowie alten Tagebüchern hat er seine Vorfahren bereits bis ins Jahr 1600 zurückverfolgt. Sie waren über das gesamte Gebiet der späteren Österreichisch-Ungarischen Monarchie verstreut – unter ihnen gab es sowohl Schuhmachermeister als auch einen polnischen Adligen aus Siebenbürgen. Er ist überzeugt: An vielen Orten dieser Welt hat er ein Stück Heimat gefunden – sei es in Deutschland, in Ungarn oder auch bei einem gelungenen Konzert. Doch seine eigentliche Heimat bleibt für ihn eine einzige: Kronstadt (Brassó) und das Burzenland (Barcaság), wohin er mehrmals im Jahr zurückkehrt.
Titelbild: Anna Gazdik
Text: Anna Gazdik
Übersetzung: Pathy






























