Sie ist in Budapest geboren, in Ost-Berlin aufgewachsen und lebt heute in Wien. Lange Zeit war sie als Unternehmensberaterin tätig, dann hat sie doch angefangen, Bücher zu schreiben. In ihren Romanen (Das Licht vergangener Tage/Régmúlt napok fénye, Rückkehr nach Budapest) wird das lebendig, was sie kennt, worauf sie aber trotzdem wie eine Außenseiterin blickt: die DDR, der Plattensee und Budapest der 80er-Jahre – und natürlich Wien, die Stadt der Sehnsüchte, in der am Ende mehrere ihrer Figuren landen. Wir haben mit der Autorin Nikoletta Kiss über den Berufswechsel, die Diktatur und das Romanschreiben gesprochen.
Rólunk.at/Anna Gazdik: Du bist in Budapest geboren, in (Ost-)Berlin aufgewachsen und lebst heute in Wien. Ist es ein Zufall, dass du gerade hier, zwischen Berlin und Budapest, deine Heimat gefunden hast?
Nikoletta Kiss: Die Wahrheit ist, dass dahinter überhaupt keine Absicht steckte. Als ich sechs Jahre alt war, wurden meine Eltern nach Berlin versetzt. Aus den ursprünglich geplanten vier Jahren wurden schließlich sechzehn, und erst danach sind sie wieder nach Ungarn zurückgekehrt. Ich war zu diesem Zeitpunkt aber bereits an der Humboldt-Universität immatrikuliert, habe Wirtschaft studiert und dort auch meinen späteren Mann kennengelernt – deshalb bin ich geblieben. Nach dem Studium wurde ich Unternehmensberaterin und habe zwölf Jahre lang bei KPMG (Klynveld Peat Marwick Goerdeler) gearbeitet. Acht Jahre haben wir in Sydney gelebt, und als wir dann nach Europa zurückkehren wollten, hat mein Mann gerade ein Jobangebot in Wien bekommen. Erst da ist mir wirklich aufgefallen, dass ich zum ersten Mal an einem Ort lebe, an dem die ungarische Kultur präsent und relevant ist – man muss nur auf die Gebäude, die Speisekarten oder die Straßennamen schauen. Und das gefällt mir richtig gut.

Rólunk.at/Anna Gazdik: Was bringt eine Unternehmensberaterin dazu, plötzlich Belletristik zu schreiben?
Nikoletta Kiss: Dieser berufliche Wechsel ist in meinem Leben nicht von einem Tag auf den anderen passiert: Ich habe immer schon gern geschrieben, aber meine Eltern meinten damals: Das ist schon schön und gut, aber ich soll trotzdem eine ‚gescheite Ausbildung‘ machen. Als dann klar war, dass wir nach Wien ziehen, hatte ich eigentlich schon seit Jahren an meinem ersten Roman gearbeitet – und da hatte ich das Gefühl, ich muss mir ein Jahr Auszeit nehmen, um das Buch fertigzuschreiben, sonst werde ich unglücklich. Und als ich dann tatsächlich einen Verlag dafür gefunden habe – und es sogar ins Ungarische und Italienische übersetzt wurde –, hat es mich ehrlich gesagt überhaupt nicht mehr gereizt, in die Beratung zurückzukehren. Nur leider kann man vom Romanschreiben nicht leben, deshalb habe ich bei einem kleinen Wiener Verlag, dem Braumüller, als Lektorin angefangen. Das ist nicht weit weg vom Schreiben, und ich lerne auch viel dabei, wenn ich mit den Manuskripten anderer arbeite.
Rólunk.at/Anna Gazdik: In beiden deiner Bücher greifst du auf die Zeit des Staatssozialismus zurück. Ein großer Teil der Handlung von Das Licht vergangener Tage spielt im Ungarn der 50er-Jahre und während der Revolution von ’56, während in Rückkehr nach Budapest das Ost-Berlin und Budapest der 80er-Jahre lebendig werden. Beschäftigt dich diese Zeit besonders?
Nikoletta Kiss: Ja, beide meine Bücher sind so entstanden, dass mich die jeweilige Epoche, in der sie spielen, sehr interessiert hat. Aber weil ich sie selbst nicht miterlebt habe, habe ich extrem viel darüber recherchiert und gelesen, weil es mir wichtig war, sie authentisch darstellen zu können. Mein Großvater hat leider nicht gern über die Ereignisse von ’56 gesprochen, aber ich wollte ohnehin nicht direkt seine Geschichte erzählen. Was das zweite Buch betrifft: Ich war ein Kind in den 80er-Jahren, daher konnte ich die Intellektuellenszene rund um den Prenzlauer Berg oder die ungarischen oppositionellen und Samisdat-Kreise nicht wirklich aus erster Hand kennen. Trotzdem wollte ich diese zwei Welten nebeneinanderstellen. Die eigentliche Geschichte ist übrigens aus einer Szene heraus entstanden, die mir ein ungarischer Künstler erzählt hat, der nach Wien emigriert ist: In den 70er-Jahren, als es bereits den Weltpass gab, hat er mit seiner Frau eine Busreise nach Wien gemacht. Dort hat er ihr dann eröffnet, dass er nicht mehr zurückkehren wird. Eine Nacht blieb ihr, um zu entscheiden: bleiben oder zurück nach Ungarn. Sie wählte die Rückkehr. Der Mann hat sich dann am Busbahnhof hinter einer Säule versteckt und beobachtet, wie sich die Bustür hinter seiner Frau schließt. Ich habe mir diese Szene vorgestellt und gewusst: Daraus wird ein Roman.
Rólunk.at/Anna Gazdik: Wenn du die zwei erwähnten Welten nebeneinanderlegst – worin siehst du den Hauptunterschied zwischen dem damaligen Berlin und Budapest?
Nikoletta Kiss: Als ich im Sommer am Balaton auf Tennisplätzen oder in Kaffeehäusern gearbeitet habe, war ich oft dabei, wie sich Ost- und Westdeutsche endlich begegnen konnten. In Budapest kam man damals an ausländische Bücher heran, von denen man in der DDR nur träumen konnte, und die ganze Stadt hatte ein westliches Flair, das den Deutschen sehr gefallen hat. Natürlich gab es auch in Ungarn Repressionen gegen Oppositionelle – mit Polizeiverhören und dergleichen –, aber das war nicht vergleichbar mit dem systematisch aufgebauten Spitzelnetz der Stasi, das in jede Freundschaft eingegriffen hat.
Rólunk.at/Anna Gazdik: Deine Hauptfiguren gehen unterschiedlich mit der bestehenden Diktatur um. Wovon hängt es ab, wer sich anpasst und wer rebelliert?
Nikoletta Kiss: Ich finde, die Herkunft eines Menschen und seine Kindheit machen einen gewaltigen Unterschied. Mit der Figur von Márta wollte ich jemanden zeigen, der im Sozialismus eher zur breiten Masse gehört: Sie stammt aus einem kleinen Ort am Balaton, schätzt die Errungenschaften der Zeit und ist dankbar dafür, dass sie gratis in Budapest studieren kann. Nicht alle erleben es aber so: Rebekka, aus bürgerlichem Haus, hat in den 1950er-Jahren deutlich größere Hürden zu überwinden. Deshalb verlässt sie auch 1956 das Land. Auch der rebellische Konstantin kommt in der DDR mit dem System in Konflikt. Dort hat der Staat Familien nur so lange unterstützt, wie er der Meinung war, dass das Kind zur „sozialistischen Persönlichkeit“ erzogen wird. Wenn die Jugendfürsorge das anders gesehen hat, konnte das Kind der Familie entzogen werden. Und wenn auch das mit der Umerziehung nicht funktioniert hat, wurden die Widerspenstigen nach Torgau gebracht – ein echtes Gefängnis –, wo man sie schwer traumatisiert und gebrochen hat.

Rólunk.at/Anna Gazdik: Konstantin schreibt sich seine Kindheitstraumata von der Seele, aber das Manuskript ist nur für die Schublade gedacht: Er glaubt, in der DDR könne man es nicht veröffentlichen, und im Westen würde es ohnehin niemanden interessieren. Haben deine deutschen Leserinnen und Leser ein Interesse an der DDR-Vergangenheit – oder auch an der Geschichte des sozialistischen Ungarn?
Nikoletta Kiss: Das Licht vergangener Tage hat ursprünglich in den 50er-Jahren gespielt und endete 1956. Mein deutscher Verlag hat mich gebeten, eine Rahmenhandlung zu schreiben, die in der heutigen Zeit in Deutschland spielt – sonst hätten sie das Buch nicht verkaufen können. Dadurch hat sich der Fokus von dem ungarischen Maler auf die Geschichte von drei Frauen aus drei Generationen verschoben, von denen die jüngste heute in Berlin eine Galerie besitzt. Mir ist übrigens bei Lesungen und Autorinnengesprächen aufgefallen, dass sich das ungarische Publikum eher für die ungarischen Teile interessiert, während die deutschen Leserinnen und Leser besonders an der DDR hängenbleiben. Die erste Lesung aus Rückkehr nach Budapest fand in Pankow statt – vor einem Publikum aus der alten DDR-Intelligenz, vor denen ich großen Respekt hatte. Die sind – verständlicherweise – sehr sensibel, wenn jemand über die DDR schreibt, der oder die diese Zeit nicht selbst erlebt hat. Da befürchten sie oft, dass die Darstellung nicht authentisch ist. Zum Glück hat ihnen mein Buch gefallen – sie haben den Außenblick durch die Augen von Márta und Theresa sogar besonders geschätzt.

Rólunk.at/Anna Gazdik: Weißt du schon, worum es in deinem nächsten Buch gehen wird?
Nikoletta Kiss: Vielleicht ja. Ich habe schon eine Idee für das nächste Buch, momentan versuche ich, die Figuren besser kennenzulernen. Mir ist aufgefallen, dass ich eigentlich gar nicht so viel Freiheit habe, was den Verlauf der Handlung betrifft, weil der Hintergrund und die Kindheitserlebnisse der Charaktere bestimmen, wie sie in gewissen Situationen reagieren oder welche Entscheidungen sie treffen. Es braucht unglaublich viel Kraft, um da auszubrechen und einen anderen Weg zu wählen.
Rólunk.at/Anna Gazdik: Zum Beispiel das Schreiben nach der Karriere in der Wirtschaft?
Nikoletta Kiss: Ich habe immer schon den Wunsch in mir getragen zu schreiben, und auch beim Romanschreiben denke ich genauso analytisch wie früher in der Beratung. Deshalb würde ich eher sagen, dass ich mich weiterentwickelt habe und jetzt dort bin, wo ich immer schon hinwollte.
Titelbild: Anna Gazdik
Text: Anna Gazdik
Übersetzung: Pathy