Was kann eine Lehrperson tun, wenn ein Teil der SchülerInnen nicht über ausreichende Deutschkenntnisse verfügt, um dem Unterricht zu folgen? Wie kann man heute Fremdsprachen am effektivsten unterrichten? Wie kann sichergestellt werden, dass Kinder die Sprache ihrer Eltern nicht vergessen? Dies sind komplexe Fragen, auf die das Österreichische Sprachen-Kompetenz-Zentrum greifbare Antworten geben möchte. Wir waren zu Gast beim ÖSZ-Team, und wir können bereits sagen, dass ihre Begeisterung für sprachliche Vielfalt leicht auf jeden übertragen werden kann.
Statistiken zufolge hat heute etwa jeder vierte Einwohner in Österreich keine österreichischen Wurzeln, und etwa jeder siebte ist nicht einmal österreichische/r StaatsbürgerIn. In den Schulen hat etwa jede/r dritte SchülerIn eine andere Muttersprache als Deutsch, und in einigen Bezirken Wiens kann dieser Anteil bis zu 50 oder sogar 70 Prozent betragen. Die Heterogenität der Gesellschaft bedeutet natürlich gleichzeitig sprachliche Vielfalt, die neben den positiven Aspekten auch viele Herausforderungen birgt. Idealerweise wäre es natürlich erwartbar, dass jeder Einwohner die deutsche Amtssprache und die Sprache seiner Herkunftsfamilie auf hohem Niveau beherrscht, dazu auch Englisch kann und idealerweise in einer weiteren Fremdsprache gut zurechtkommt. Die konkreten Lebenssituationen können jedoch bei weitem nicht als ideal betrachtet werden. Neuankömmlinge müssen so schnell wie möglich beim Erlernen der deutschen Sprache unterstützt werden, während bei anderen befürchtet wird, dass die Sprache der Familie oder eines Elternteils zusehends aus dem täglichen Gebrauch schwindet, und für viele stellt das Erlernen von Fremdsprachen eine Herausforderung dar.
Die bisher nie dagewesene sprachliche Vielfalt stellt auch das Schulsystem vor neue Herausforderungen: Ein Großteil der Lehrer ist nicht darauf vorbereitet, mehrsprachige Gruppen zu unterrichten, obwohl die neue Situation eine grundlegend neue Herangehensweise und Methodik erfordern würde. Österreich befindet sich jedoch in der glücklichen Lage, dass der Verein Österreichisches Sprachen-Kompetenz-Zentrum (ÖSZ) speziell darauf ausgerichtet ist, LehrerInnen bei ihrer Arbeit im Bereich erfolgreicher Sprachlehre und Erhaltung sprachlicher Vielfalt zu unterstützen. In ihren kostenlos herunterladbaren, benutzerfreundlichen Broschüren versucht das ÖSZ moderne methodische Ansätze auf verständliche Weise vorzustellen und mit leicht verwendbaren Beispielaufgaben für den Unterricht zu ergänzen. Diese Broschüren decken ein breites Spektrum der genannten Themen ab, von der Vermittlung des Deutschen als Zweitsprache bis zur Förderung der Herkunftssprache.
Die Beherrschung der deutschen Sprache und gleichzeitig das Bewusstsein für sprachliche Vielfalt können nicht früh genug beginnen. Mit den wunderschön illustrierten PUMA-Plakaten (Produktiver Umgang mit Mehrsprachigkeit im Alltag von Kindern), die sich an 4-6-Jährige richten, können Kinder spielerisch den deutschen Wortschatz erlernen, den sie zum Schulbeginn benötigen, während sie gleichzeitig ihre Muttersprache verwenden können. Die Ergebnisse sprechen für sich: Das ÖSZ hat bisher mehr als 100.000 Plakate an verschiedene Kindergärten in Österreich und Deutschland verschickt. Die Erstellerin der Plakate Karin Weitzer erzählt bewegt von einem ungarischen Jungen, der einen österreichischen Kindergarten besucht, und sich durch das Plakat ermutigt fühlte, vor den anderen sein Lieblingslied auf Ungarisch zu singen.
Die Übermittlung der deutschen Sprache erfordert jedoch mehr Aufgaben von den Schulen. “Die Vermittlung der deutschen Unterrichtssprache kann heute nicht nur die Aufgabe der Deutschlehrer sein”, sagt Carla Carnevale, Projektleiterin am ÖSZ. Sie verfolgt seit mehr als 10 Jahren das Ziel, die Methode des sogenannten “sprachsensiblen/sprachbewussten Unterrichts” bekannt zu machen und zu fördern. Die Grundidee lautet wie folgt: Es reicht nicht aus, im Schulalltag nur die deutsche Alltagssprache zu verstehen, da jeder Unterrichtsgegenstand seine eigenen Fachbegriffe hat, die bekannt sein müssen, um mit dem Lehrplan Schritt zu halten. So kann es leicht passieren, dass Schüler mit einer anderen Muttersprache aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten Chemie oder Biologie nicht verstehen, da in der Deutschstunde Begriffe wie “Sauerstoff”, “Quelle” oder “Zweikeimblättrige” nicht vorkommen. Nicht zu vergessen ist, dass sogar viele deutschsprachige Kinder einen Großteil des schulischen Wortschatzes zu Hause nicht vermittelt bekommen. In einem sprachbewusst aufgebauten Unterricht nimmt sich der Fachlehrer Zeit, um neue Begriffe einzuführen und sorgfältig zu erklären, und kann bei Bedarf auch wichtige grammatikalische Strukturen wiederholen, zum Beispiel die Steigerung von Adjektiven (“größer-kleiner”) in der Mathematikstunde oder die Vergangenheitsform unregelmäßiger Verben im Geschichtsunterricht. Darüber hinaus ist die Verwendung der Muttersprache nicht ausgeschlossen: unter geeigneten Rahmenbedingungen, zum Beispiel wenn die Schüler selbstständig oder in Gruppenarbeit etwas recherchieren müssen, können sie dies auch in ihrer Muttersprache tun, bevor sie es den anderen auf Deutsch präsentieren.
Carla, mit italienischen Wurzeln väterlicherseits, kennt die demütigende Situation aus ihrer Kindheit, als Lehrpersonen ihren Nachnamen vor der gesamten Klasse falsch aussprachen, aber damals war sie die Einzige in ihrer Klasse mit einem ausländischen Namen. Vielleicht hält sie es deshalb für wichtig, dass die LehrerInnen sich über die Herkunft und Muttersprache der SchülerInnen im Klaren sind, zumindest so weit, dass sie ihre Namen korrekt aussprechen können. Sie hofft, dass in Zukunft sich niemand wegen seines/ihres ausländischen Akzents schämen muss oder wenn er/sie die Artikel im Deutschen falsch verwendet, genieren muss.
Die Sprachkenntnisse sind eng mit der Fähigkeit zum Textverständnis verbunden. Nach den enttäuschenden PISA-Ergebnissen, hat das Bildungsministerium im Schuljahr 2023-24 die Entwicklung der Lesekompetenz zu einer Priorität im österreichischen Schulsystem gemacht. Da das Textverständnis sowohl ein Bestandteil der Deutschkenntnisse als auch der Fremdsprachenkompetenz ist, arbeitet das Zentrum auch zu diesem Thema. Albert Göschl, stellvertretender Leiter des Zentrums, beschäftigt sich in mehreren Projekten mit der Förderung des Lesens, stellt auf einer eigens dafür eingerichteten Website Unterrichtstipps, Literaturverweise und aktuelle Informationen zu diesem Thema bereit.
Neben der adäquaten Vermittlung des Deutschen als Zweitsprache, ist ein weiterer Schwerpunkt des ÖSZ der effektive Unterricht und das Lernen von Fremdsprachen – darunter Englisch, Französisch, Italienisch und Spanisch. Serena Comoglio kommt aus der Welt der Übersetzungswissenschaften zum ÖSZ und ist davon überzeugt, dass die Schlüsselkompetenzen für Übersetzung und Dolmetschen auch einen wichtigen Teil des Fremdsprachenlernens ausmachen und sogar in einer mehrsprachigen Gemeinschaft die Kommunikation erheblich erleichtern können. Dazu gehören beispielsweise das Paraphrasieren in der Zielsprache anstelle von wörtlichen Übersetzungen oder die Vermittlung zwischen Kulturen, die sogenannte Mediation. Denn bei der Verwendung einer Fremdsprache vermitteln wir genauso zwischen zwei Parteien, wenn wir den Inhalt eines Textes für jemanden zusammenfassen, jemandem die Aufgabe erklären oder sogar wenn wir mit Freunden über das Wochenendprogramm sprechen und dann im Kinoprogramm nach dem passenden Film suchen. In ihrem nächsten Projekt plant sie daher Erklärungsvideos zur Mediationsfähigkeit für Sprachlehrer zu erstellen.
Das ÖSZ versucht nicht nur durch Lehrplanentwicklung, sondern auch auf andere Weise Bildungseinrichtungen dazu zu motivieren, Fremdsprachen auf höchstem Niveau zu unterrichten und dabei die sprachliche Vielfalt ihrer Schülerinnen und Schüler zu bewahren. Die Europäische Kommission hat im Jahr 1998 die Auszeichnung “Europäisches Sprachensiegel” ins Leben gerufen, für die unter anderem Kindergärten, Schulen, pädagogische Hochschulen, Universitäten, Weiterbildungseinrichtungen und Vereine mit herausragenden sprachlichen Projekten Anträge stellen können. In Österreich vergibt das ÖSZ alle zwei Jahre das Sprachensiegel an erfolgreiche Bewerber. Die Projektleiterin, Rijana Trešnjić, ist sehr stolz auf die ausgezeichneten Institutionen: “Ich freue mich, dass wir auf diese Weise die Arbeit von Lehrerinnen und Lehrern honorieren können, die sich für qualitativ hochwertigen Sprachunterricht engagieren, und positive österreichische Beispiele auch auf europäischer Ebene präsentieren können”, fasst sie zusammen.
Rijana, die im Alter von einem Jahr aus Bosnien nach Österreich kam war – wie Carla – die einzige in ihrer Volksschulklasse, deren Erstsprache nicht Deutsch war. Daher lernte sie schnell Deutsch. Beim Sprechen der Muttersprache mit ihren bosnischen Freunden bemerkte sie im Laufe der Zeit, dass sie der deutschen Sprache in vielen Bereichen mächtiger war, als in ihrer Erstsprache. Aus ihrer Begeisterung für Sprachen heraus, absolvierte sie schließlich an der Universität Graz das Studium Bosnisch-Kroatisch-Serbisch, wo sie auch die sprachlichen Lücken füllen konnte. Aufgrund ihrer Erfahrungen ist es ihr wichtig, dass so viele Menschen wie möglich in Österreich den ihnen zustehenden Muttersprachen-/ Erstsprachenunterricht in Anspruch nehmen, und sie möchte erreichen, dass die Schülerinnen und Schüler in diesen Stunden auch den schulischen Fachwortschatz ihrer Herkunftssprache besser kennenlernen können.
Karin Weitzer beschäftigt sich neben den bereits erwähnten PUMA-Plakaten auch mit den Herkunftssprachen: Dazu gehört der Unterricht der in Österreich anerkannten Minderheitensprachen, nämlich des in Kärnten gesprochenen Slowenischen sowie des in Burgenland verwendeten Kroatischen, Romani und Ungarischen. Im Auftrag und in enger Zusammenwirkung mit dem Bildungsministerium begleitet Karin mit großer Freude pädagogische Projekte aus dem Minderheitenschulwesen: Dabei werden z.B. kompetenzorientierte analoge und digitale Unterrichtsmaterialien und Schulbücher entwickelt, es wird die Matura für Kroatisch, Ungarisch und Slowenisch als zweite lebende Fremdsprache erstellt, die neuen Lehrpläne wurden geschrieben und es laufen Projekte zur Digitalisierung und zur Leseförderung. Einmal im Jahr organisiert das ÖSZ das sogenannte FORUM Minderheitenschulwesen, eine Veranstaltung bei der aviele Stakeholder zusammenkommen und Ideen für die Zukunft entwickeln. “Es war zuerst seltsam, dass ich keine der Minderheitensprachen spreche, aber Die ProjektpartnerInnen aus dem Burgenland und aus Kärnten haben mich aber so herzlich aufgenommen, dass ich meine anfängliche Scheu rasch ablegen konnte. Ich genieße die Zusammenarbeit sehr und ich bin beeindruckt vom Engagement der Lehrenden & Lernenden, der Kultur- und Sportvereine, der Bildungsdirektionen und Hochschulen und aller, die sich für den Erhalt und Gebrauch der Volksgruppensprachen einsetzen!” – sagt sie.
Das heutige ÖSZ wirkt seit den 1970er Jahren im Fremdsprachenunterricht mit und wurde 1990 eine Abteilung für Fremdsprachenunterricht im Zentrum für Schulversuche, setzt aber seit dem Jahr 2005 seine Arbeit als eigenständiger Verein “Österreichisches Sprachen-Kompetenz-Zentrum” um. Die Leiterin der einstigen Abteilung und dann des ÖSZ war Dagmar Heindler aus Graz, die gleichzeitig die Vertreterin Österreichs im Europarat war. In den 1990er Jahren standen die Mehrsprachigkeit und das Fremdsprachenlernen im Mittelpunkt der Politik des Europarates, und es wurde schnell klar, dass es eines internationalen Instituts bedarf, das diese Prinzipien auch in die Praxis umsetzt und konkrete Methoden entwickelt. So entstand 1995 in Graz auch das Europäische Fremdsprachenzentrum (European Centre for Modern Languages), das ebenfalls eng mit dem ÖSZ zusammenarbeitet. In die Geschichte führt uns Gunther Abuja ein, der seit 1989 beim ÖSZ arbeitet und seit 2007 das ÖSZ leitet. Er ist besonders stolz auf die Entwicklung der österreichischen Versionen des Europäischen Sprachenportfolios, sowie auf die nationalen und internationalen Verbindungen des Zentrums. Seiner Meinung nach hat sich das ÖSZ erfolgreich an die sich verändernden Erwartungen im Bereich des Sprachenlernens angepasst, nachdem die Unterstützung der Mehrsprachigkeit im Laufe der Zeit auf den Unterricht des Deutschen als Zweitsprache verlagert wurde. Gleichzeitig hat das ÖSZ jedoch nicht auf seine Grundwerte verzichtet, nämlich die Vertretung der Idee, dass jede Sprache an sich einen Wert darstellt und Mehrsprachigkeit – bei angemessener Nutzung – ein enormes gesellschaftliches Potenzial und nicht ein Problem ist.
Dies zeigt auch das ÖSZ selbst auf hervorragende Weise: „Der Kaffee ist fertig“ – ruft jeden Vormittag Tina Panhuber, die Allrounderin des Zentrums, in das Telefon und die Mitarbeiter versammeln sich zu einer gemeinsamen Kaffeepause. Die Gespräche über fachliche und persönliche Themen finden auf Deutsch statt, aber man kann schnell den italienischen Akzent von Serena, den albanischen Akzent des Informatikers Drini Salihi oder den ungarischen Akzent der Autorin erkennen.